Liest man sich Beiträge in Internetforen oder auf reddit/nofap durch, stößt man schnell auf die berühmt-berüchtigten 90 Tage (oder im Englischen: 90 days). Diese Zahl scheint für viele Betroffene eine sehr große Bedeutung zu haben. Aber was versteckt sich dahinter? In diesem Artikel will ich meine Sicht über das Ziel der 90 Tage zusammenfassen.
Woher kommt die häufige Erwähnung der 90 Tage?
Diese Zahl tritt im Internet zum Thema Pornosucht immer wieder auf. Man sieht sie in sogenannten Countern als Ziel und auf Reddit in sogenannten „90 day reports“. Aber woher kommt diese doch recht willkürlich erscheinende Zahl? Warum nicht 50 oder 100 Tage?
Sie stammt aus der NoFap-Szene auf Reddit. Aber warum es gerade diese 90 Tage sein mussten, ist nicht ganz klar.
Es kommt vermutlich aus den Anfangszeiten des Themas Pornosucht im Internet. Es war in etwa um das Jahr 2010 herum, als sich die ersten Nutzer mit PIED und anderen Symptomen in Internetforen trafen und über ihre Probleme diskutierten. Viele erreichten eine Besserung oder komplette Eliminierung ihrer Probleme, nachdem sie für einige Zeit auf Pornografie verzichteten.
Zwischen dieser Gruppe und Betroffenen, die danach kamen, gibt es allerdings einen Unterschied. Damals waren die ganz großen Pornoseiten im Internet noch relativ jung. Die oben beschriebenen Nutzer wuchsen oft ohne Internetpornografie auf und schauten eher Hefte oder Videokassetten an. Als sie mit Pornoseiten im Internet in Berührung kamen, waren sie häufig schon älter und schauten erst seit ein paar Jahren Internetpornografie.
Eine Besserung der negativen Symptome trat dann nach Abstinenz oftmals recht schnell ein. Die 90 Tage waren für diesen Personengruppe also gar keine schlechte Schätzung. Häufig ging es auch schneller. Zu Beginn las man beispielsweise auch häufig von der Schätzung 6-8 Wochen.
Seit den Anfangstagen hat sich einiges geändert
Seitdem ist aber eine neue Gruppe herangewachsen. Diese ist mit Internet und später dann auch Smartphones aufgewachsen. Als diese Gruppe sich dann im Internet zusammenfand, benötigten sie häufig deutlich länger als 90 Tage um ihre Symptome zu überwinden. Einige waren enttäuscht, als sie Tag 90 erreichten und immer noch mit Erektionsproblemen zu kämpfen hatten.
Ich kann nur mutmaßen, warum das so ist. Aber ich gehe davon aus, dass es einfach länger dauert, je früher man mit Internetpornografie in Kontakt kam. Heutzutage laufen bereits Kinder mit Smartphones in der Hand herum. Und deren Eltern sind oft sehr naiv was die Inhalte im Internet betrifft.
Meine Theorie ist: Je früher man angefangen hat, je mehr man geschaut hat und je mehr sich der Pornokonsum in eine bestimmte, extremere Richtung entwickelt hat (Desensitivierung), desto länger dauert es, um die Probleme zu überwinden.
Die Zahl von 90 Tagen halte ich daher für überholt. Aber wäre sie denn hilfreich, selbst wenn sie realistisch wäre?
Sind Tagesziele wie 90 Tage hilfreich?
Meiner bescheidenen Meinung nach ist es nicht hilfreich, sich auf solche Tagesziele zu fokussieren. Egal ob es nun 30, 90 oder 365 Tage sind. Ich will hier kurz die Gründe für meine Skepsis nennen.
Nichts Besonderes geschieht über Nacht
Nehmen wir einmal an, dass ich mir das Ziel gesteckt habe, 90 Tage „durchzuhalten“. Was würde dann an Tag 90 passieren? Was geschieht in der Nacht zwischen Tag 89 und 90, dass sich mein Leben komplett ändern würde?
Die Antwort ist: nichts. In der Nacht zwischen Tag 89 und 90 wird nichts Besonderes passieren, außer den normalen Schwankungen, die das Leben eben so mit sich bringt. Warum sollte man sich also so sehr auf eine bestimmte Zahl konzentrieren?
Es kann demotivierend wirken
Oben habe ich ja bereits geschrieben, dass über Nacht nichts Besonderes passiert. Setzt man sich aber ein Tagesziel und es geschieht an diesem Tag nichts, kann das sehr demotivierend wirken.
Ich habe diese Erfahrung selbst früher gemacht. Zu Beginn – etwa im Jahr 2013 oder 2014 – war ich selbst sehr durch NoFap und die berühmt-berüchtigten 90 Tage beeinflusst. Ich setzte mir dieses Ziel und erreichte es irgendwann auch. Und hatte immer noch Erektionsprobleme…
Man kann sich vorstellen, dass das nicht gerade motivierend war. Wenn man die „Ziellinie“ erreicht hat und sich noch immer wie am Start fühlt, oder zumindest nicht so, wie man es sich erhofft hatte, ist das kein schönes Gefühl. Die „Ziellinie“ ist aber eine Fiktion.
Was passiert an Tag 91?
Stellen wir uns einen fiktiven Pornonutzer namens Dirk vor. Dirk findet NoFap auf Reddit und ist motiviert. Er setzt es sich zum Ziel, 90 Tage lang pornofrei zu bleiben. Drei Monate später hat Dirk dieses Ziel auch wirklich erreicht.
Was macht Dirk jetzt? Soll er wieder anfangen Pornos zu schauen? Oder vielleicht doch eher weitermachen wie bisher und abstinent bleiben?
Wenn Dirk denkt, dass ein Leben ohne Pornos besser ist als ein Leben mit, wird er Option 2 wählen. Alles andere wäre ja auch irrational. Aber wozu war dann überhaupt das Tagesziel gut? Wenn er ab Tag 91 weitermacht, waren die drei Monate vorher nichts Besonderes. Wenn er aber ab dann wieder Pornos schaut, weshalb hat er dann vorher 90 Tage darauf verzichtet?
Entweder wir wollen ohne Pornos leben oder mit. Dann kommt es aber nicht darauf an, welcher Tag gerade ist.
Tage zählen kann negative Auswirkungen haben
Das Tage zählen an sich kann negative Auswirkungen haben. Nehmen wir als Beispiel wieder unseren Freund Dirk. Dirk setzt sich wie oben das Ziel. Aber diesmal schaut er an Tag 30 Pornos und hat sein Ziel damit nicht erreicht. Er setzt seinen Zähler auf 0 zurück.
Was jetzt recht häufig geschieht ist Folgendes: Dirk denkt, dass er eh wieder bei 0 angekommen ist, und es daher auf ein paar weitere Stunden (oder Tage) mit Pornografie auch nicht weiter ankommt. Das ist aber ein psychologischer Trick. Wer vorher Fortschritte gemacht hat, verliert diese Fortschritte nicht einfach nach einem Rückschlag an Tag 30. Dass man wieder bei 0 startet ist eine Fiktion, die durch das Zählen von Tagen verstärkt wird.
Es kann dazu führen, dass andere Ziele für 90 Tage aufgeschoben werden
Auch diesen Punkt habe ich früher an mit selbst beobachtet. Ich habe dann z.B. gedacht:
„Wenn ich erst einmal Tag 90 erreicht habe, spreche ich diese Frau an, die mir gut gefällt.“
oder
„Ich beginne mit dieser Sportart, wenn ich die 90 Tage hinter mir habe. Aktuell habe ich dazu noch nicht die Energie.“
Wer sich einen solchen Tag als Ziel setzt, schiebt manchmal Ziele bis dahin auf. Was dann aber passieren kann ist, dass man diesen Tag nie erreicht und daher niemals damit beginnt, an anderen Zielen zu arbeiten. Oder aber man erreicht den Tag und fängt dann wirklich an. Aber warum hätte man dann überhaupt so lange warten sollen?
Mein Ratschlag ist, sofort damit zu beginnen, an anderen Zielen zu arbeiten. Warum warten? Wie gesagt: es geschieht nichts Magisches in der Nacht zwischen Tag x-1 und Tag x.
Fazit
Es ist vermutlich klar geworden, dass ich kein großer Freund der berühmt-berüchtigten 90 Tage bin. Sie sind erstens für die jüngere Generation unrealistisch. Aber auch darüber hinaus bin ich kein großer Fan solcher Tagesziele.
Wenn man auf dem richtigen Weg ist, kommt es nicht darauf an, ob man sich seit 30, 90 oder 365 Tagen auf diesem Weg befindet. Es bleibt der richtige. Und selbst wenn man Rückschläge hat. Wenn man davon überzeugt ist, dass der Weg der richtige ist, geht man nach einem Rückschritt einfach weiter.
Es würde mich freuen, wenn wir in Zukunft etwas wegkommen würden von diesem Denken in Tagen. Und uns stattdessen mehr auf ein Leben ohne Pornografie konzentrieren würden.
2 Kommentare zu „90 Tage bis zum Durchbruch – Wahrheit oder Mythos?“